Gespräch mit der Herausgeberin Prof. Dr. Claudia Liebrand über „Kafka und die Psychoanalyse“
Kafkas Einfluss hat sich in der deutschen Sprache eingebrannt: Wer hat nicht bereits eine „kafkaeske” Beschreibung gehört? Oder eine „kafkaeske“ Atmosphäre gelesen? Der Sammelband „Kafka und die Psychoanalyse“ – herausgegeben von Professorin Dr. Claudia Liebrand und Professor Dr. Dr. StR. Rainer J. Kaus – verbindet Kafkas Texte mit Sigmund Freuds Psychoanalyse. Mehr Einblicke in die konzeptionelle Idee des Bandes, Kafkas Haltung zur Psychoanalyse und eine persönliche Empfehlung zum Buch gibt die Herausgeberin, Professorin Dr. Claudia Liebrand, im folgenden Interview:
Was hat Sie dazu veranlasst, gerade Kafkas Texte für eine psychoanalytisch orientierte Lektüre auszuwählen? Was macht sein Werk aus Ihrer Sicht besonders anschlussfähig für diese Herangehensweise?
„Die Kafka-Forschung zeichnet sich traditionell durch ihre Affinität zur Theorie aus (ob nun zu Strukturalismus, Systemtheorie oder Dekonstruktion, um nur einige Theoriekonfigurationen zu nennen). Das liegt sicher auch daran, dass Kafkas Texte den Leser auszusperren scheinen. Der theoretische Aufwand dokumentiert den Versuch, sich gegen diesen ‚Widerstand‘ Zugang zu den Texten zu verschaffen. Und unter den Theorien, die immer wieder herangezogen wurden, um Konstellationen in Kafkas Texten zu verhandeln, nimmt die Psychoanalyse eine prominente Rolle ein. Psychoanalytische Herangehensweisen an Kafkas Texte sind produktiv, weil diese Texte in Kenntnis der Freud’schen Theoreme geschrieben sind und in sie Verhandlungen der zeitgenössischen Psychoanalyse inskribiert sind, zu der sich Kafka immer wieder unterschiedlichsten Kontexten äußerte. So notiert der Autor am 23. September 1912 nach der als rauschhaft erlebten nächtlichen Niederschrift seiner ‚Durchbruchserzählung‘ Das Urteil: ‚Gedanken an Freud natürlich.‘“
Wie blickte Kafka auf die Psychoanalyse?
„Kafka war kein Freud-Leser, aber er setzte sich in Gesprächen mit Freunden und Bekannten sowie durch die Lektüre von Zeitschriftartikeln mit psychoanalytischen Theoremen auseinander. So las er regelmäßig die Neue Rundschau, die Aktion und den Pan – in diesen Zeitschriften wurden regelmäßig psychoanalytische Fragestellungen publiziert. Zwar ist Kafka skeptisch, was die therapeutische Leistungsfähigkeit angeht, er begreift die Psychoanalyse aber als bedeutsame intellektuelle Verhandlung der Herausforderungen der Moderne. Begeistert reagierte er vor allem auf Otto Gross’ gesellschafts- und autoritätskritisch angelegte Auseinandersetzung mit der Freud’schen Lehre. In seiner Rezeption der Psychoanalyse lässt sich Kafka durchaus in Beziehung zu Thomas Mann setzen, der dieser 1929 in seiner ersten großen Freud-Rede die Bedeutung einer ‚Weltbewegung‘ zuspricht, von der ‚alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten‘. Sie sei ‚einer der wichtigsten Bausteine, die beigetragen worden sind zum Fundament der Zukunft, der Wohnung einer befreiten und wissenden Menschheit‘.“
Abschließend gefragt: Was macht den Band für Sie – auch persönlich – besonders? Gibt es Aspekte, die Ihnen im Rückblick als besonders gelungen erscheinen?
„Der Band vereint viele gelungene und anregende Interpretationen zu Kafkas Texten. Mich besonders fasziniert haben die ausgesprochen innovativen Interpretationen von Kafkas wirkmächtigsten Roman(fragment), dem Proceß. Anna Lynn Dolman durchleuchtet den Text auf ein zentrales Axiom der Freud’schen Analyse hin: die Urszene. Lutz Ellrich liest ihn als Analyse pathologischer Geschlechterverhältnisse und toxischer Erotik. Astrid Lange-Kirchheim macht die Begegnung des Protagonisten K. mit Titorelli, die sie als homosexuelle Begegnung identifiziert, zum Ausgangspunkt einer Lektüre des Romans, die Kafkas dekonstruierenden Umgang mit literarischen und entsprechenden kulturellen Vorgaben vorführt. Und Philipp Weber durchleuchtet den Text mit Rekurs auf Louis Althussers Theoreme. Alle vier hochplausiblen Zugänge zum Proceß sind so, wie sie präsentiert werden, völlig neu und finden sich in den Abertausenden von Sekundärliteratur-Beiträgen, die seit fast 100 Jahren zum Roman vorgelegt wurden, nicht.“
Der neu erschienene 13. Band der Reihe „Texturen” bietet der psychoanalytisch interessierten Literaturwissenschaft neue Einsichten in die bei Kafka besonders intrikaten und produktiven Verhandlungen psychoanalytischer Konfigurationen.