Interview – Depressive (Anti-)Helden

07.04.2022

Interview – Depressive (Anti-)Helden

Interview_Temelli

Gespräch mit Yasmin Temelli

Depressionen waren lange ein Tabuthema. Aber auch im Rahmen der Coronakrise, die negative Effekte auf die psychische Gesundheit vieler Menschen hat, haben wir gelernt, offener mit dem Thema umzugehen. Sind Antihelden wie Hamlet, Jack Sparrow oder Hitman, die in Literatur, Film und der Spielewelt immer präsenter sind, auch automatisch depressiv? Yasmin Temelli für ihren Teil hat festgestellt, dass depressive (Anti-)Helden zumindest die aktuelle französische Literaturlandschaft in ausgeprägtem Maße besiedeln.

In Ihrer Publikation „Le sel n’est pas salé“ thematisieren Sie depressive (Anti-)Helden in der aktuellen französischen Literaturlandschaft. Was gab Ihnen Anstoß dazu?

Als ich vor über zehn Jahren angefangen habe, mich mit dem Phänomen der Depression auseinanderzusetzen, war sie in der öffentlichen Diskussion noch nicht annährend so präsent wie heute. Tatsächlich ist der Impuls in meinem Freundeskreis begründet; gleich zwei mir nahestehende Menschen bildeten eine Dysthymie aus beziehungsweise litten unter einer Major Depression, ohne dass ich es damals derart klar hätte benennen können. So fing ich an zu tun, was LiteraturwissenschaftlerInnen zu eigen ist: darüber zu lesen. Neben Lektüren aus dem Bereich der Medizin und Psychoanalyse zog es mich natürlich schnell auch in das Reich der (Auto-)Fiktion und spätestens als mir das inhaltlich wie ästhetisch eindrucksvolle Werk Suicide von Édouard Levé in die Hände fiel, war der Entschluss gefasst, die Depression aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive eingehender zu beleuchten.

Anhand einiger Texte wollen Sie medizinische und psychoanalytische Narrative in der Literatur sondieren. Zu welchem Ergebnis kommen Sie hier?

Die im Fokus der Studie stehenden literarischen Texte von Philippe Labro, Antoine Sénanque, Philippe Delerm, Édouard Levé, Michel Houellebecq und Thierry Beinstingel suchen in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße den Dialog mit der Medizin, der Psychoanalyse sowie der Pharmakologie und beziehen ganz unterschiedlich Stellung zu den fachspezifischen Ansätzen – teilweise auch dadurch, dass überhaupt gar keine Thematisierung erfolgt. Insgesamt erweisen sie sich als überaus selbstbewusst im Umgang mit dem jeweiligen disziplinären Wissen; die Modellierungen reichen von Affirmation über kritische Reflexion bis hin zu beißender Verspottung. Oftmals passen sie sich nicht in die jeweilige Logik ihrer Dialogpartner ein. Die Ausgestaltung des depressiven Erlebens weicht immer wieder von den Parametern der nosologischen Klassifikationssysteme ab und zeigt, dass keine fallstudienartige Nachbildung medizinischer Diskurse angestrebt ist. Die besprochenen Texte leisten mit ihrer Teilnahme an der Diskussion einen spezifisch wissenspoetologischen Beitrag und lenken durch ihre Textur das Augenmerk auf ausgewählte Phänomene wie beispielsweise die Sinneswahrnehmung während des depressiven Erlebens.

Wem möchten Sie Ihr Werk unbedingt empfehlen? Ist es auch für Studierende der französischen Literaturwissenschaft geeignet?

Die Untersuchung könnte gerade für Studierende der Philologien (nicht nur der französischen Literaturwissenschaft) von Relevanz sein. Ich habe im vergangenen Semester ein Seminar zu Krankschreibungen in der französischen Literatur angeboten und die Teilnehmenden führten vor allem zum depressiven Erleben in den (auto-)fiktionalen Texten intensive Diskussionen. Dies mag nicht zuletzt damit einhergehen, dass die Depression in der Lebenswelt zunehmend präsent und auch nicht mehr als Tabuthema gebrandmarkt ist.

Besonders würden mich Lektüreerfahrungen aus medizinischer und psychoanalytischer Sicht interessieren. In ihrer Pluridimensionalität ist die Depression für eine Disziplin allein schwerlich fassbar, hier ist ein interdisziplinärer Austausch sicherlich auch in Zukunft vonnöten und von großem Nutzen.

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