Interview mit dem Autor Dr. Sean Prieske
Dr. Sean Prieske hat geflüchtete Menschen über mehrere Jahre begleitet und erforscht, wie sich ihr Ankommen in Deutschland im Musikmachen und -hören widerspiegelt und wie Musik gleichzeitig in ihrem Lebensalltag wirkt. In diesem Interview gibt er Einblicke in seine Methodik, seine persönliche Wahrnehmung und in das aus der Forschung entstandene Buch Musik und Flucht.
Gab es musikalische Erlebnisse oder Begegnungen während Ihrer Forschung, die Sie besonders berührt oder überrascht haben?
„Empirische Forschung mit Menschen hinterlässt immer eine Vielzahl an bleibenden Eindrücken, bei den Forschenden und bei den Forschungspartner:innen. Das Changieren zwischen Nähe und Distanz zum Forschungsfeld und die Reflexion über die eigene Forschungsposition gehören allerdings zum klassischen Handwerk der Musikethnologie.
Besonders berührt hat mich die Herzlichkeit und Offenheit vieler geflüchteter Menschen, mit mir über Musik und ihr Leben zu sprechen. Diese Offenheit hat zu einem entscheidenden Teil positiv zu meiner Forschung beigetragen und Kontakte ermöglicht, die über den Forschungszeitraum hinaus Bestand haben. Diese menschliche Nähe war für mich sowohl Herausforderung als auch Ansporn, Wissenschaft mit sozialer Verantwortung zu betreiben und positiv auf mein Forschungsfeld einzuwirken.“
Wie positioniert sich Ihr Buch innerhalb der aktuellen Forschung zu Musik und Flucht – was ist Ihr spezifischer Beitrag?
„Mein Buch bietet interdisziplinäre Anknüpfungspunkte. Immer wieder mache ich Verbindungslinien zwischen Musikethnologie, Musiksoziologie und Popular Music Studies sichtbar. Aber auch Fluchtforschung, Anthropologie und Cultural Studies sind hervorzuheben. Diesen unterschiedlichen Ansätzen ist die Fokussierung auf den Menschen und sein kulturelles Handeln gemein. Solches Handeln vor dem Hintergrund einer immer stärker vernetzten Welt zu verstehen, erfordert interdisziplinäres Denken.
Fluchtmigration durch die Brille der Musik zu betrachten, bietet sich dabei besonders an: Musik ist überaus mobil, drückt kulturelle Identitäten aus und kann uns über sprachliche Grenzen hinweg emotional berühren. Da die musikbezogene Form der Auseinandersetzung mit Flucht noch nicht sehr etabliert ist, versuche ich exemplarische Perspektiven zur Beschäftigung mit diesem Thema herauszuarbeiten. Diese bezeichne ich im Buch als Beschreibungsdomänen zur Auseinandersetzung mit Musik und Flucht.“
Welche methodischen Herausforderungen ergaben sich beim Forschen im privaten Umfeld geflüchteter Menschen?
„Herausfordernd waren zu Forschungsbeginn der Zugang zu Geflüchtetenunterkünften und der Aufbau von Vertrauen zwischen mir und Geflüchteten, aber auch zwischen mir und dem Deutschen Roten Kreuz, mit dem ich zusammengearbeitet habe. Hilfreich war hierbei meine ehrenamtliche Musikarbeit. Sobald dieses Vertrauen bestand, wurde ich fast überall herzlich willkommen geheißen.
Herausforderungen bestanden eher hinsichtlich anderer Dimensionen: Wie lässt sich die Vielfalt an Musik und Lebensweisen geflüchteter Menschen erfassen und beschreiben? Wie gehe ich mit der Mobilität von Musik, aber auch der Menschen um? Zum Beispiel wurden Menschen, mit denen ich forschen wollte, abgeschoben, sodass ich sie nicht weiter begleiten konnte. Wie thematisiere ich das Machtungleichgewicht zwischen mir als privilegiertem Forscher und Menschen in Notsituationen? Und wie erforsche ich Musik, die aufgrund von Flucht pausiert oder aufhört zu existieren? In dem Buch versuche ich Antworten auf solche Fragen zu geben.“
Inwiefern verändert sich die Bedeutung von Musik, wenn Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen?
„Geflüchtete Menschen reflektieren sich und ihren Lebensalltag über Musik und nutzen musikalische Praktiken zum Verhandeln eigener Positionierungen nach der Flucht. Musik wird dann zum Beispiel zu einem wichtigen Medium der Erinnerung an die Heimat oder drückt die Trauer über Verlust aus. Musik kann aber auch wesentlich zu sozialen Begegnungen beitragen und das Ankommen Geflüchteter in Deutschland erleichtern. Geflüchtete bringen ein großes musikalisches Wissen, ein bedeutsames kulturelles Kapital, mit nach Deutschland. Sie zeigen eine große Bereitschaft, über musikalische soziale Räume mit anderen Menschen in Austausch zu treten. Dazu ist Musik aufgrund ihrer Mobilität und ihrer emotionalen, kulturellen und sozialen Affordanzen besonders im Fluchtkontext prädestiniert.“
Wer Lust auf mehr Informationen und musikalische Begleitung zum Thema hat, kann gerne in den Deutschlandfunk-Kultur-Podcast Tonart reinhören. In der Folge Erinnerung und Trauer mit Musik: Studie zum Thema ‚Musik und Flucht‘ erzählt Dr. Prieske mehr.