Musik zum Lesen: Neue Perspektiven auf Musik und Literatur

09.01.2024

Musik zum Lesen: Neue Perspektiven auf Musik und Literatur

Neues Buch von Dr. Ute Elena Hamm untersucht musikalisch-literarische Hybride

In ihrem neuen Buch „Musik zum Lesen“ untersucht Dr. Ute Elena Hamm musikalisch-literarische Hybride, also Werke, die sowohl musikalische als auch literarische Merkmale aufweisen. In einem Interview mit dem Rombach Verlag spricht die Autorin über die Besonderheiten dieser Werke, ihre Bedeutung für die zeitgenössische Kunst und ihre eigenen Forschungsinteressen.

Musik zum Lesen – das klingt spannend und wirft zugleich einige Fragen auf. Was können wir uns darunter vorstellen?

Als „Musik zum Lesen“ hat der Komponist Dieter Schnebel sein Buch „MO-NO“ bezeichnet. Darin finden sich, wie in einer Collage, Zitate aus Literatur, Musik und Bildender Kunst, Textbausteine, Notenzeichen und grafische Elemente sowie viele verschiedene Mischformen. Sie sollen eine Person dazu anleiten, sich Musik, einzelne Klänge oder Geräusche vorzustellen und in das innere Hören auch das zu integrieren, was in der Umgebung wahrgenommen wird. Diese Person soll ganz expliziert eine Leserin oder ein Leser sein, „MO-NO“ soll also ‚gelesen‘ werden. Aber dieses Lesen ist eigentlich genauso gut Hören und Muszieren. Man kann also gar nicht so genau sagen, was „MO-NO“ eigentlich ist: Buch oder Partitur? Musik oder Literatur? Ich sage, es ist beides gleichzeitig, nämlich ein musikalisch-literarischer Hybrid.

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Merkmale von musikalisch-literarischen Hybriden? Können Sie ein bekanntes Beispiel für ein solches Hybrid nennen?

Unter Schnebels Schlagwort „Musik zum Lesen“ fasse ich ganz unterschiedliche Formen von musikalisch-literarischen Hybriden zusammen. Sie eint ihre Andersartigkeit, denn ‚Musiken zum Lesen‘ bezeichnen etwa keine Gattung oder ähnliches, sondern sind singulär. Gemeinsam haben sie weniger eine Form als ein Prinzip. Sie besitzen jeweils musikalische und literarische Merkmale, sodass man nicht so recht entscheiden kann: Handelt es sich hier um Musik oder Literatur? Der musikalische und gleichzeitig literarische, also der hybride Eindruck kann auf ganz unterschiedliche Weise entstehen, je nachdem, wie das Objekt gestaltet ist, was der Inhalt ist oder wie man damit umgeht. Das kann sogar beim selbem Objekt variieren. Ob hörend lesend oder lesend hören – dieses Prinzip kann man auch in anderen, sogar sehr bekannten Werken finden, und zwar sowohl von Schriftstellerinnen als auch von Komponisten (oder umgekehrt). In meiner Arbeit untersuche ich den Roman „Malina“ von Ingeborg Bachmann, in dem sie Notenzitate aus dem Melodram „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg in den Fließtext einbettet. John Cages „Lecture on Nothing“ ist ein Redevortrag, der einem musikalischen Schema unterliegt und dessen Text taktähnlich angeordnet ist. Erik Saties Klavieralbum „Sports et Divertissements“ besteht aus zwei Ebenen: aus der Klavierstimme und parallel verlaufenden Erzählungen. Was sich auf den ersten Blick nicht erschließt und vielleicht auch bis zum Schluss unklar bleibt, ist, wie gehe ich mit dem Musikalischem, wie mit dem Literarischem in diesen Hybriden um?

Welche Bedeutung haben musikalisch-literarische Hybride für die zeitgenössische Kunst?

Was mich an diesen ‚Musiken zum Lesen‘ begeistert, ist, dass sie zwar Produkte einer (westlichen) musikalischen und/oder literarischen Hochkultur sind, aber gleichzeitig niedrigschwellig sind – oder sein können. Ja, alle vier untersuchten Werke lassen einen zunächst einmal ratlos zurück, das gilt übrigens aber auch für die musikalisch oder literarisch ‚Gebildeten‘. Über „MO-NO“ sagte Schnebel treffend, jeder könne sich etwas vorstellen – und es stimmt, das habe ich mit einigen Probanden ausgetestet. Manchmal muss man sogar sagen, obwohl jemand Noten lesen kann, formt sich vor seinem inneren Ohr ein ganz eigener Klang. Und ob, oder besser gesagt wie z.B. Ausschnitte aus Gedichten berühren, hängt zunächst einmal von der eigenen Erfahrung und der momentanen Empfänglichkeit ab, nicht aber von speziellem Hintergrundwissen. Und auf ganz ähnliche Weise kann jede und jeder einen Zugang auch zu den anderen Werken finden – oder auch überhaupt anderen. Das individuelle und subjektive Verstehen von Musik, Literatur oder Bildender Kunst ist legitim und eine gleichberechtigte Lesart. Für mich haben die ‚Musiken zum Lesen‘ deshalb Kunststatus, weil sie genau dies schaffen: unabhängig von Ort, Zeit und Person immer wieder neu verstanden werden zu können.

Für mich haben die ‚Musiken zum Lesen‘ deshalb Kunststatus, weil sie genau dies schaffen: unabhängig von Ort, Zeit und Person immer wieder neu verstanden werden zu können.

Dr. Ute Elena Hamm , Autorin des Bandes „Musik zum Lesen“

Dr. Ute Elena Hamms Buch „Musik zum Lesen“ eröffnet neue Perspektiven auf Musik und Literatur. Die Autorin zeigt, dass musikalisch-literarische Hybride nicht nur von einer bestimmten Gruppe von Experten verstanden und geschätzt werden können, sondern auch für ein breiteres Publikum zugänglich sind. Ihre Werke sind offen für Interpretation und bieten immer wieder neue Möglichkeiten, Musik und Literatur zu erleben.