Babylon Berlin und die filmische (Re-)Modellierung der 1920er-Jahre

10.05.2024

Babylon Berlin und die filmische (Re-)Modellierung der 1920er-Jahre

Einblick in medienkulturwissenschaftliche Perspektiven

Die Serie „Babylon Berlin“ hat nicht nur das Publikum weltweit in ihren Bann gezogen, sondern auch das Interesse von Medienwissenschaftlern geweckt. Prof. Dr. Andreas Blödorn und Dr. Stephan Brössel werfen in ihrem Buch einen medienkulturwissenschaftlichen Blick auf die faszinierende Welt der 1920er-Jahre, wie sie in der Serie dargestellt wird. In diesem Interview teilen sie ihre Erkenntnisse über die Herausforderungen der Analyse von fiktionalen Geschichtsdarstellungen und die Bedeutung von „Babylon Berlin“ für unser heutiges Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart.

Inwiefern hat die Serie Babylon Berlin Ihren Blick auf die Weimarer Republik und die 1920er Jahre verändert?

Unsere aktuelle Medienkultur zeichnet sich durch einen massiven Hang zur Retrospektive aus. Das gilt nicht nur, aber besonders für die 1920er. Die Serie zeigt in ihrer Machart vor allem auf, wie wir auf die Zeit der Weimarer Republik blicken oder auch, was wir in dieser Zeit sehen – und zwar aus unserer eigenen historischen Situation heraus. Es geht ihr also darum, das Vergangene aus einem heutigem Interessenshorizont zu befragen und es neu zu erzählen. Insofern hat die Serie weniger unseren Blick auf die 1920er verändert als sie uns deutlich gemacht hat, wie eine serienmediale Arbeit am kollektiven Gedächtnis aussehen kann und was das wiederum für unser Gegenwartsverständnis bedeutet.

Welche Herausforderungen stellen sich bei der medienwissenschaftlichen Analyse einer fiktionalen Geschichtsdarstellung wie Babylon Berlin?

Zwei wesentliche Herausforderungen möchten wir nennen.

Zunächst einmal ist die Serie thematisch vielschichtig und komplex. Dass unter anderem in politischer, ideologischer, sozialer und familiärer Hinsicht ein heterogenes Bild gezeichnet wird, ist freilich dem behandelten Sujet geschuldet. Babylon Berlin verweigert sich in dieser Hinsicht einer eindeutigen Aussage in Bezug auf die historische Zeitgeschichte und unterläuft ganz bewusst einen eindimensionalen Erklärungsansatz.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, das, was weitläufig ‚Retrospektive‘ genannt wird, im vorliegenden Fall genau zu bestimmen, auch seinen Wert zu bestimmen: Wie ist der Blick in die kulturelle Vergangenheit medial geartet und warum ist er so geartet wie er es ist? Und hier reicht Babylon Berlin über eine objektiv-neutrale Rückschau hinaus; auch mit dem Begriff der Nostalgie ist ihr nicht beizukommen, da sie ja nicht ins sehnsuchtsvoll Schwärmerische abschwenkt. Was hier passiert, nennen wir ‚Re-Modellierung‘. Babylon Berlin entwirft eine Welt der 1920er, auch unter Rückgriff auf ästhetische Darstellungsverfahren des Films der Zeit, zeigt aber zudem deutlich an, dass es sich um eine klar am heutigen Mainstream des Serienerzählens ausgerichtete Produktion handelt.

Welche Bedeutung hat die Serie Babylon Berlin für das heutige Verständnis von Gesellschaft, Kultur und Geschichte in Deutschland?

Wir möchten sagen, eine enorme. In Kritiken und in der Forschung zur Serie wird mehrheitlich auf die Parallelen zwischen unserer politischen Lage heute und derjenigen, die die Serie in Blick nimmt, hingewiesen. Beide Situationen stehen im Zeichen der Krise.

Einerseits nimmt Babylon Berlin daher Anteil an dem, was Jan Assmann als Arbeit an einer „textgestützten Form des kulturellen Gedächtnisses“ bezeichnet hat, ist gleichermaßen medialer Speicher und Aushandlungsspielraum für Fragen der Gesellschaft, Kultur und Geschichte in Deutschland. Andererseits verweist sie auf das große Unsicherheitsempfinden unserer Zeit, die Haltlosigkeit vermeintlicher Verbindlichkeiten, und führt zugleich vor, wie entsprechenden soziokulturellen Krisenzuständen mit Hilfe des Erzählens begegnet werden kann. So stellt die Serie nicht allein eine Diagnose mentalitätsgeschichtlicher Zustände an, sondern schafft auch ein emergentes Moment, indem sie sie überhaupt erst einmal erzählbar macht. Und das wiederum im Gewand einer populären Erzählform.

Unsere aktuelle Medienkultur zeichnet sich durch einen massiven Hang zur Retrospektive aus. Das gilt nicht nur, aber besonders für die 1920er.

Prof. Dr. Andreas Blödorn und Dr. Stephan Brössel

Die Serie „Babylon Berlin“ hat nicht nur die Vergangenheit neu interpretiert, sondern auch einen Spiegel vorgehalten, der uns dabei hilft, unsere eigene Zeit besser zu verstehen. Prof. Dr. Andreas Blödorn und Dr. Stephan Brössel haben mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag zur medienkulturwissenschaftlichen Analyse geleistet und uns Einblicke in die vielschichtige Welt der 1920er-Jahre und die Bedeutung von Retrospektive für unser heutiges Verständnis von Gesellschaft, Kultur und Geschichte gegeben.